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WR Von der Psychoanalyse zur Charakteranalyse

Therapie

Die Medizin war Reichs eigentlicher Beruf. Er hat aber nie allgemeine Medizin praktiziert, sondern bereits während seines Studiums angefangen, in Wien als Psychoanalytiker zu arbeiten. Dort wurde er bereits mit Anfang 20 Mitglied in Sigmund Freuds persönlichem Zirkel.

Zunächst arbeitete Reich nach den Methoden der klassischen Psychoanalyse, stellte aber bald fest, und bekannte sich auch dazu, dass damit viele Fälle nicht zu bessern waren. Hier zeigen sich bereits ganz deutlich seine völlige Aufrichtigkeit und Hingebung an die Sache, die wesentliche Bestandteile seiner überragenden Persönlichkeit waren. Ein Homo normalis würde öffentlich nur von Erfolgen sprechen und Misserfolge möglichst zu verheimlichen trachten.

Als Leiter des Technischen Seminars, der historisch ersten psycho-analytischen Ausbildungseinrichtung in Wien, erarbeitete Reich mit einem Kreis junger und aufgeschlossener Kollegen seine ersten Modifikationen der psychoanalytischen Theorie. Freud hatte die Todestrieb-Hypothese entwickelt und erklärte damit die Therapieresistenz so vieler Fälle.

Reich fand sich aber mit dem biologischen Willen zum Leiden, der laut Freud besonders deutlich im masochistischen Charakter hervortrete, nicht ab, sondern nahm selbst Masochisten zur Behandlung an und entwickelte unter anderem an diesen Fällen seine Technik der Charakteranalyse.

Deren wichtigstes Element war die Erweiterung des Krankheitsbegriffs. Freud hatte sich bei seinen eigenen Forschungen hauptsächlich dem hysterischen Formenkreis gewidmet. Das Kriterium für Krankheit war eine auf wenige Symptome begrenzte Abweichung vom Durchschnitt, die sich aber in einer Störung der Arbeits- oder sonstigen Lebenstauglichkeit auswirkte, z. B. einer Phobie.

Reich hingegen begriff die gesamte Persönlichkeit seiner Patienten als krank, wobei umschriebene Symptome nur ein besonders augenfälliges Zeichen seien, die sich auf dem Boden einer allgemeinen neurotischen Reaktionsbasis entwickelten.

Neben den klassischen Krankheitskriterien, die sich durch eine Unbrauchbarkeit des Individuums durch die Gesellschaft (den „Staat“) definieren, rückte Reich immer mehr auch das persönliche Leiden, die „Genussunfähigkeit“, also das Interesse des Individuums, ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Hier zeigt sich eine weitere seiner Charaktereigenschaften, die seine weitere Entwicklung entscheidend beeinflusst hat, nämlich die Sympathie für und das Mit-Leiden mit dem leidenden Individuum.

Als weiteres Merkmal seiner Charakteranalyse gab Reich der konsequenten Anwendung der Widerstandsdeutung breiten Raum. Es wurde zu seinem wichtigsten therapeutischen Instrument.

Es war in der Psychoanalyse damals bereits bekannt, dass der Patient Widerstände gegen das Befolgen der psychoanalytischen Grundregel, der freien Assoziation, haben kann. Reich entwickelte auf dieser Basis eine Technik, bei der der Patient nicht mehr nur zur freien Assoziation angehalten wurde, sondern er deutete vor allem die Widerstände, die die Patienten durch ihr sonstiges, nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehendes Verhalten zum Ausdruck brachten, wie z. B. Zuspätkommen, Fehlleistungen, gekünsteltes Auftreten, Sprechweise usw.

Auch hier kündigt sich bereits eine grundsätzliche Wandlung an von der informationsorientierten Psychoanalyse hin zur Energie-(= Gefühls-) Orientierung.

Die Psychoanalyse war primär daran interessiert, bestimmte Informationen zu erhalten und dem Patienten weiterzugeben („Deutung“), z. B., ob er die sog. „Urszene“ (den Geschlechtsverkehr der Eltern) erlebt hatte, während Reich vor allem am emotionalen Ausdruck und dessen Belebung interessiert war.