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Reichsche Therapie

Von Volker Knapp-Diederichs

Reichsche Therapie ist kein statistisches, klar definiertes und identisch reproduzierbares Modell. Das gilt für jede andere interaktive therapeutische Methode wahrscheinlich entsprechend. Wir können im besten Fall die Proportionen zwischen den statischen und den dynamischen Elementen einer Methode beschreiben, mehr nicht.

Das hat verschiedene Hintergründe. Jede therapeutische Methode trägt naheliegenderweise die Handschrift der Persönlichkeit ihres Begründers. Deshalb ist der Begründer einer Methode gleichzeitig ihr Meister. Schüler sind niemals nur blinde Nachahmer derselben, sondern fügen ihre eigenen Persönlichkeitsanteile hinzu, nicht immer im Sinne des Begründers der Methode. Hieraus ergeben sich neue Proportionen von Statischem und Dynamischem. Und: aus diesem Spannungsbogen resultiert letztlich die Geschichte der Psychotherapie. Reich war als Freud-Schüler sicher eher Dynamiker, andere, wie Ernest Jones, Statiker. Reich, Rank, Ferenczi und andere liefen eine Zeitlang hinter Freud her, doch gingen später ihrer eigenen Wege. Andere tappten ein Leben lang brav hinter Freud her und schrieben dicke Bücher über die Beschaffenheit des Weges.

Fragen und Antworten zur Therapie nach Wilhelm Reich
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Was ist eigentlich eine Reich(sche) Therapie?

Zurück zu Reich. Die erste Schwierigkeit, die Frage nach der Reichschen Therapie zu beanworten, resultiert aus der Entwicklung Reichs und seiner therapeutischen Methoden selbst. Reich begann bekanntlich als traditioneller Psychoanalytiker, drückte dieser dann in Gestalt der Charakteranalyse seinen Stempel auf (1925 bis 1934).

Die Charakteranalyse entwickelte er weiter zu charakteranalytischen Vegetotherapie (ab 1935), der Urform aller tiefenpsychologischen Körpertherapien. Mit der Entdeckung des Orgons 1939 konnte Reich seine therapeutische Methode neu definieren und nannte diese später Orgontherapie, wobei er wiederum unterschied zwischen psychiatrischer und physikalischer Orgontherapie (letztere bezeichnet die therapeutische Anwendung orgonphysikalischer Gerätschaften wie dem Orgonakkumulator).

vgl. Reich: Charakteranalyse, S. 359 ff.] Reich selbst kommentiert dies so:

Es war nicht ungebührliche Sensationssucht, die in einer und derselben naturwissenschaftlichen Disziplin so viele verschiedene Bezeichnungen entstehen ließ. Es ist vielmehr der konsequenten Anwendung des naturwissenschaftlichen Energiebegriffs auf die Vorgänge des Seelenlebens zuzuschreiben, daß in verschiedenen Phasen der Entwicklung neue Begriffe für neue Techniken geprägt werden mussten. (Charakteranalyse, S. 360)

Bis hierher können wir also festhalten, dass Reichs therapeutische Methode durch unterschiedliche Entwicklungsphasen, Modelle und Bezeichnungen gekennzeichnet sind, so dass wir also nicht von der Reichianischen Therapie sprechen können.

Der zweite Hintergrund, der die Beantwortung der Frage schwierig macht, hängt mit der o.a. Wechselbeziehung von Statik und Dynamik, Entwicklung und Bewahrung zusammen. Wer Reich etwas näher kennt, wird feststellen, dass er in seinem Werk häufig atemberaubende Entwicklungsschritte machte, die teilweise so schnell waren, dass nur wenige Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung ihm und seinen Erkenntnissen folgen konnten. Kurzum, auch was den Aspekt von Entwicklung betrifft, kann man Reich, mit Fug und Recht als Dynamiker bezeichnen.

Ironischerweise lässt sich dies gerade von dem Teil seiner Anhänger nicht behaupten, die sich besonders vehement auf seine Lehre berufen, welche ich als Reich-Orthodoxie bezeichnen möchte. Aus dem verständlichen Bedürfnis, sein Werk vor Missinterpretationen und Verzerrungen zu schützen, ist ein Konservativismus entstanden, der neben den bewahrenden auch hemmende oder atavistische Aspekte enthält.

Wenn wir uns auf diesem Hintergrund der Frage nach der Reichschen Therapie zuwenden, können wir feststellen, dass es bewahrende Traditionen gibt, die zumindest für sich beanspruchen, Reichsche Therapie im ursprünglichen Sinne zu praktizieren: Dabei handelt es sich v.a. um eine Gruppe amerikanischer Orgontherapeuten des American College of Orgonomy und einige wenige Einzelpersonen, die sich dies zu Ziel gesetzt haben oder für sich beanspruchen. Das Problem dabei ist: Es gibt kaum Kontrolle darüber, ob z. B. das, was auf der Verpackung steht, z. B. „Orgontherapie nach WR“, auch wirklich drin ist, denn es gibt keine unabhängige Instanz, die das verifizieren könnte.

Wir können also nur glauben und vertrauen, dass die „Bewahrer“, die Orthodoxie, nach besten Wissen und Gewissen handeln. Dies könnte zu dem Schluss führen, dass, wenn es darum geht, eine möglichst originale Reichsche Therapie zu machen, diese bei der Reich-Orthodoxie zu finden bzw. bei jenen, die sich entsprechend titulieren.

Kompliziert wird die Angelegenheit dadurch, dass nicht jeder, der Orgontherapie anbietet, auch orthodoxer Reichianer oder ausgebildeter Orgontherapeut ist. Auf diesem Gebiet existieren keinerlei geschützte Titel und keine Qualitätskontrollen. Zudem gibt es immer wieder exotische Einzelkämpfer, die, auch wenn Sie sich bisweilen mit grandiosen organisatorischen Bezeichnungen inaugurieren, von Haus aus keinerlei sozialer Kontrolle unterliegen. Dies ganz im Gegensatz zu Angehörigen von erkennbar demokratisch organisierten Instituten und Institutionen, wie dies z.B. die Wilhelm-Reich-Gesellschaft ist.

Da der Begriff Orgontherapie nicht geschützt ist (und auch nicht schützbar ist), kann sich im Grunde jeder als Orgontherapeut bezeichnen, der persönliche oder narzisstische Beweggründe dafür hat.

Hier angekommen, könnten wir also festhalten: Reichsche Therapie findet sich, wenn überhaupt, am ehesten dort, wo sich Reich-Orthodoxie erkennbar sozial-institutionell etabliert hat und über eine längere Tradition verfügt, wie dies auf das College of Orgonomy in den USA am ehesten zutrifft. Eine 100%ige Reichsche Therapie dürfte man nur bei Reich selbst finden, alles andere sind mehr oder weniger hochwertige Nachahmungen mehr oder weniger dazu qualifizierter Personen.

Doch es gibt bei der Angelegenheit einen Aspekt, den wir noch nicht bedacht haben: Jede Orthodoxie, also auch die Reich-Orthodoxie, ist dadurch charakterisiert, dass sie den Kontakt zur übrigen (hier: wissenschaftlichen, körper- und psychotherapeutischen) Welt, insbesondere den Dialog mit ihr, unterbewertet oder sogar abwertet, desto deutlicher sie sich im Besitz des „wahren Wissens“ glaubt. Damit muss die Orthodoxie letztlich potentielle Entwicklungsimpulse ignorieren und schmort im eigenen Saft. Gleichzeitig kann sie so ihre eigenen Grandiositätsphantasien ungehemmt zelebrieren. Sie muss, will sie ihren Auftrag des Bewahrens ernst nehmen, sich isolieren und monologisieren, sitzt allerdings damit in der Falle der Stagnation. Denn dynamische Impulse dürfen, wenn überhaupt, nur aus dem eigenen System kommen, auf keine Fall von außen, und wenn aus dem eigenen System, dann nur innerhalb des streng definierten Rahmens der bewahrenden Tradition.

Aus der Haltung des Bewahrens sind also immanente Weiterentwicklungen der Orgontherapie nicht zu erwarten. Ein Beispiel: Unter dem Aspekt des Bewahrens wäre also jede körpertherapeutische Arbeit in Gruppen keine Reichsche Therapie, denn Reich arbeitete zu seiner Zeit nur mit Einzelpersonen, genauso wenig, wie die Arbeit auf einer Matratze auf dem Fussboden anstatt auf einer Liege.

Zusammenfassend können wir also feststellen, dass in der Reich-Orthodoxie sich zwar durchaus die Reichschen Techniken wiederfinden dürften, aber dabei ihr Entwicklungsstand eher dem der 50er Jahre entspricht und zudem durch die Persönlichkeit ihrer Protagonisten gefärbt sein dürfte.

Damit fehlt ihr aber u.a. ein entscheidendes Handwerkszeug, um Entwicklungen gerecht zu werden, die seitdem stattgefunden haben, z. B. im Bereich von körperlichen und seelischen Symptomen, vorherrschenden Charakterstrukturen usw.

Denn auch fachlich ist die Zeit seit Reichs Tod nicht stehen geblieben, gerade auf dem Feld und Umfeld der Psychotherapie hat es hier immense Fortschritte in Theorie und Praxis gegeben, ich möchte nur als Beispiele hier nur die Gruppendynamik, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie, Bindungsforschung, Systemische Ansätze, Kurzzeittherapien, Traumatherapien und Säuglingsforschung anführen. Das Wissen aus über 40 Jahren Psychotherapie und Forschung dürfte komplex genug sein, um den Reichschen Ansatz zu verifzieren oder falsifizieren, erweitern und bereichern könnte.

Ähnliches gilt in größerem Umfang für das gesamte Gebiet dessen, was wir heute alsKörperpsychotherapie bezeichnen. Die psychotherapeutische Körpertherapie nach Reichs Tod, z.B. die Bionenergetische Analyse nach Lowen, die Biodynamik nach Boyesen oder dieBiosynthese nach Boadella u.v.a. repräsentieren ein therapeutisches Knowhow, das rein quantitativ weit über das jeder Reich-Orthodoxie hinausgehen muss. Womit ich nicht behaupte, dass dies allein schon eine Qualifizierung bedeutet. Aus der Bewegung der Humanistischen Psychologie hervorgehend oder von dieser inspiriert, bezeichneten sich viele dieser Schulen vormals als „neoreichianisch“, was, etwas verkürzt formuliert, nichts anderes als die Konnotation von Humanistischer Psychologie und Reichianischer Technik bezeichnet. Doch auch hier ist die Verpackung „neoreichianisch“ (oder „reichianisch“, soweit sie denn heute noch verwendet wird) nicht gleich Inhalt.

Wenn es der Reich-Orthodoxie also in ihrer Grundhaltung des Bewahrens nur schwerlich gelingen kann, den Herausforderungen neuer (Charakter-)Diagnosen und entsprechender therapeutischen Konsequenzen zu begegnen (z.B. in der Behandlung sog. früher und narzisstischer Störungen), hat die moderne, dynamische Körperpsychotherapie (hervorgegangen aus der o.a. neo-reichianischen Tradition) manches Rad neu erfunden. In ihrer verbreiteten Berührungsangst mit dem Werk von Reich wurden manche seiner Kernaussagen vorschnell über Bord geworfen oder einfach vergessen (z.B. die Bedeutung der Sexualität und der Funktion des Orgasmus für Verlauf und Prognose, das energetische Modell einschließlich der Lehre von den Segmenten, der Komplex der vegetativen Strömungen und ihrer Funktion u.ä.) und damit die eigene therapeutische Kompetenz unnötig eingeschränkt. Auch die sozialen und soziologischen Aspekte der Reichschen Lehre sind hier vollkommen in Vergessenheit geraten. Zum Teil ist dies auch darauf zurückzuführen, dass die Schüler von Reich, oftmals Schulergründer der modernen Körperpsychotherapie, möglicherweise aufgrund unaufgelöster Übertragungsprozesse, vieles getan haben, um ihren Lehrer als obsolet und sich selbst als innovativ zu präsentieren — Ausnahmen bestätigen hier die Regel.

Eine betont dynamisch-modernistische Haltung unterliegt der Gefahr, im Neuen an sich bereits eine Qualität zu sehen und dabei Vorhandenes, was an manchen Punkten ältlich erscheinen mag, als Ganzes zu negieren und sich damit solcher Ressourcen und dem durchaus hilfreichen Halt entsprechender Traditionen zu berauben.

Man könnte nun spekulieren, ob Reich selbst, als der Dynamiker, der er war, Impulse von außen ignoriert hätte, wie es unter seinen konservativen Anhängern häufig der Fall war und ist, aber das ist letztlich müssig.

Letztlich ist es eine persönliche Frage, ob man eher dem Bewahrenden oder dem Dynamischen zuneigt, beide, wie ich gezeigt habe, mit Licht- und Schattenseiten; aber in jedem Fall dürfte die Etikettierung „Reichsche Therapie“ nicht zwangläufig mit der Qualifizierung „gute Therapie“, „richtige Therapie“, „wahre Therapie“ gleichgesetzt werden. Gerade eine im o.a. orthodoxe Grundhaltung unterliegt allzu leicht der Gefahr, Mystifizierungen und Idealisierungen jeder Art Vorschub leisten. Jede selbsternannte (und andere gibt es nicht) Reichsche Therapie enthält Licht und Schatten und bestenfalls größere oder kleinere Anteile von Mystifizierung, Dynamik und Statik, Bewahrung und Entwicklung. Dies gilt es zu bedenken, wenn man vor der Entscheidung steht, eine solche Therapie für sich in Erwägung zu ziehen.

Nicht diskutiert haben wir hier die Frage nach dem therapeutischen Agens. Was begründet überhaupt die Wirksamkeit einer körpertherapeutischen Intervention: Ist es die geniale Technik, das richtige Timing, die optimale Ausbildung, das überwältigende Wissen, die einzigartige Intuition des Therapeuten?

Ist es die ausgefeilte Methode, das brillante theoretische Modell, die empirische Reproduzierbarkeint eines therapeutischen Modells?

Nicht diskutiert haben wir hier auch die Faktoren der Beziehung, der Persönlichkeit des Therapeuten, des persönlichen Kontakts u.ä. Es könnte durchaus sein, dass in diesen langfristig mehr Antwort zu finden ist als wir uns vorstellen.

Gibt es Essentials dessen, was man Reichsche Therapie nennt?

Diese Frage ist bedeutend leichter zu beantworten als die vorangegangene, denn dazu brauchen wir Reich selbst nur heranzuziehen. Letztlich ist es eine Frage nach dem, was Reich selbst als essentiell für seine Arbeit schriftlich definiert hat.

… ich nun mit dem Ausdruck Orgontherapie auch die Charakteranalyse und die Vegetotherapie zu umfassen vorschlage. …. Die Orgontherapie konzentriert unsere Arbeit an der biologischen Tiefe, am Plasmasystem, oder, wie wir technisch zu sagen pflegen, am biologischen Kern des Organismus. (CA, S. 362)

Die Orgontherapie unterscheidet sich von allen anderen Arten der Beeinflussung des Organismus dadurch, dass sie unter weitgehender Ausschaltung der Wortsprache den Kranken dazu anhält, sich biologisch auszudrücken. (CA, S. 365)

Die zentrale Aufgabe der Orgontherapie ist die Zerstörung der Panzerung …, das Resultat der ideal durchgeführten Orgontherapie ist das Auftreten des Orgasmusreflexes. (CA, S. 369)

Diese 3 Zitate verdeutlichen die Essenz dessen, was wir als Reichsche Therapie benennen können, nämlich die Orientierung an den biologisch-energetischen Prozessen im Organismus jenseits der Wortsprache mit Ziel, ihr zur freien Beweglichkeit zu verhelfen, die für Reich im Orgasmusreflex sichtbar wurde. Verkürzt könnte man deshalb sagen, dass die Essenz Reichscher Therapie die Orientierung am Orgasmusreflex, an der biologisch-emotionalen Hingabehaltung ist.

So ergeben sich daraus wiederum neue Probleme: Demnach könnte man sich fragen, ob eine Körpertherapie, die auf einem modernen begrifflichen tiefenpsychologischen Modell basiert, sich nicht explizit Reichianisch benennt, aber mit der biologischen Tiefe des Orgasmusreflexes arbeitet, durchaus als reichianische Therapie angesehen werden und im Gegensatz dazu eine sog. Orgontherapie, die die Arbeit am Orgasmusreflex vermeidet und lediglich mit dem Modell der emotionalen Panzerung arbeitet, eine solche Bezeichnung eher unberechtigt trägt. Dies alles zeigt an, wie schwierig die Beurteilung dessen, was richtige Reichsche Therapie ist, über das hinaus, was ich oben ausgeführt habe, ist.

Was unterscheidet Reichianische Therapie von üblichen Körpertherapien?

Diese o.a. konsequente Orientierung am Orgasmusreflex. Andere Elemente, die Reich in seiner Arbeit entwickelt, z. B. das Modell des funktionellen Körper-Seele-Zusammenwirkens, die Bedeutung des emotionalen Selbstausdrucks, die Orientierung an energetischer Pulsation und segmentaler Struktur des Körpers u.ä. können heute durchaus gängige Elemente in bestimmten Schulen der Körperpsychotherapie sein.

Wie lange dauert eine Reichianische Therapie in der Regel?

So verständlich das Bedürfnis nach diesbezüglichen Anhaltspunkten ist, so schwierig ist es sie zu geben. Nach meinen Erfahrungen zwischen bewegen sich ca. 90% der Prozesse zwischen 3 und 6 Jahren regelmäßiger Einzeltherapie.

 

Bietet die Wilhelm Reich Gesellschaft Reich Therapien an?

Die WRG als Institution nicht. Jedoch arbeiten viele Mitglieder der WRG als Körper(psycho)therapeuten, die naheliegenderweise nicht allein das Reichsche Modell gut kennen, sondern auch praktisch umsetzen.

Therapeuten und eine Zusammenstellung derjenigen Mitglieder der WRG, einschließlich ihrer Spezialisierungen und Qualifikationen, die körpertherapeutisch mit den Methoden von Reich vertraut sind und diese in ihrer Praxis anwenden.

Wie und in welchem Umfang, das lässt sich im Einzelfall im Gespräch klären.