WR Erkenntnistheoretische Arbeit
Reich hebt die Trennung von Forscher und Forschungsgegenstand auf. Nicht ein objektiver Forscher erforscht ein absolutes, unveränderliches Objekt, sondern Forscher und Objekt bilden für ihn eine funktionale Einheit und verschmelzen damit zu einem Gesamtprozess. Erkenntnis wird nach Reich dadurch möglich, dass im erforschten Objekt und im forschenden Subjekt nach Auffassung Reichs gleiche Gesetzmäßigkeiten gelten.
Das heißt aber auch, dass das Ergebnis der Forschung von der charakterlichen Struktur des Forschers abhängig ist. Ein stark gepanzerter Forscher beschäftigt sich mit Strukturen, mit Materie, mit Statischem, mit dem Ewigen, Absoluten, Perfekten. Er wird die Natur unveränderlich, von ewigen, absoluten Prinzipien geleitet, empfinden und beschreiben. Ein Forscher mit einem emotional beweglichen Körper, der über lebendige Organempfindungen verfügt, wird sich mit dem Lebendigen, Beweglichen, Veränderlichen beschäftigen und zu dem Ergebnis kommen, dass die Natur in ständigem Fluss, in ständiger Bewegung und Veränderung begriffen ist.
Reich machte beim Kontakt mit Mitgliedern der „offiziellen“ Wissenschaft wiederholt die Erfahrung, dass diese, obwohl sie die renommiertesten Vertreter ihrer Zunft waren, sich in einem sehr engen Rahmen von Prozeduren bewegten und niemals davon abwichen. Krebsgewebe wurde immer in totem Zustand und angefärbt unter dem Mikroskop untersucht. Reich hingegen schaute sich möglichst unverändertes, lebendes Krebsgewebe an. Es zeigte sich, dass dies durchaus kein Zufall war und nicht nur von der Ausbildung des Forschers abhing. Wenn Reich solche Wissenschaftler dazu bringen wollte, ein lebendes Präparat anzuschauen, dann reagierten sie mit starker emotionaler Ablehnung, mit Angst und mit Hass, die sie hinter einer Fassade aus Arroganz verbargen. Reich deutete dies so, dass durch die agilen pulsierenden Bewegungen, die in einem lebenden Präparat sichtbar sind, bei gepanzerten Forschern höchst unangenehme Gefühle ausgelöst werden.
Ausgehend von solch grundsätzlicher Andersartigkeit in der Persönlichkeit des Forschers entwickelt sich für Reich natürlich auch ein ganz anderer Überbau an Interpretationen und Theorien. Diese werden also von der emotionalen Struktur des Forschers bestimmt, und nicht von der „absoluten Wahrheit“. Reich bezeichnete diejenige wissenschaftliche Richtung, welche vom Studium der Bewegung von Materieteilchen ausgehend, die dort geltenden Gesetze als die grundlegendsten des Universums betrachtete, als mechanistisch. Ihr weiteres wichtigstes Charakteristikum war die Ablehnung von und das völlige Unverständnis für Gefühle. Seiner Betrachtungsweise nach beschränkte sich diese Geisteshaltung aber nicht auf die Physik, sondern war beispielsweise auch in der Medizin weit verbreitet.
Die komplementäre Position war nach Reichs Auffassung der Mystizismus. Der Mystiker nahm Gefühle in seinem Körper wahr, interpretierte sie aber als Ausdruck einer höheren, unbekannten und prinzipiell unerkennbaren (was auch die Wortbedeutung besagt) Wesenheit. Beim Mystiker war also die Einheit von Gefühl und Intellekt gestört. Viele Persönlichkeiten waren nach Auffassung Reichs zugleich mechanistisch und mystisch, z. B. mechanistisch im Beruf als Physiker und mystisch bei der privaten Religionsausübung.
Reich stellte diesen beiden den Orgonomischen Funktionalismus gegenüber, seine eigene Forschungsmethode. Ziel des Orgonomischen Funktionalismus war die Erklärung zunächst unverbundener Naturerscheinungen, Funktionen, durch ein gemeinsames Funktionsprinzip (Common Functioning Principle, CFP) und Begreifen dieser Erscheinungen als Varianten des gleichen CFP. Beispiele hierfür sind die Zusammenführung der Erscheinungen „verkrampfte Muskulatur, Muskelpanzer“ und „Charakterliche Starrheit, Charakterpanzer“ im CFP „Emotionale Blockierung“, und ebenso die Auffindung des CFP „Orgonotische Überlagerung“ (Vereinigung zweier Orgonenergieströme) aus den Funktionen „Cyklon“ (Wirbelsturm) und „Galaxie“. (Die etwas abstrahierten und maßstäblich angepaßten Fotos beider Erscheinungen weisen eine verblüffende Ähnlichkeit auf).
In diesem Sinne waren Vereinheitlichung und Vereinfachung für Reich ein überragendes wissenschaftliches Prinzip. Er sah auch in der Aufsplitterung der Wissenschaft in unzählige Teilbereiche, in Natur-, Sozial- und Geistes-wissenschaften, eine pathologische Erscheinung. Er selbst hat sich völlig frei in dem gesamten Bereich der menschlichen Existenz und ihrer Erkenntnis bewegt.